Hörbericht: Sexualität und Behinderung
Podcast zur Diskussionsrunde am 30. November 2022
Sexualität und Liebe von Menschen mit Behinderung, viel zu häufig ist das noch ein gesellschaftliches Tabu. Wie kann es gelingen, damit Menschen mit Beeinträchtigungen eine eigene, selbstbestimmte Sexualität leben können, besonders in Betreuungssituationen? Was können Einrichtungen tun, damit alle das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ausüben können – ganz unabhängig von ihrem Unterstützungsbedarf? Dazu diskutierte eine Runde in der Villa Donnersmarck. Hören Sie einen Beitrag von Klaus Fechner. (reichweiten.net)
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Transkription zum Mitlesen
Sexualität und Behinderung – die Fürst Donnersmarck-Stiftung ging diesem Thema mit einer Podiumsdiskussion am 30. November 2022 nach. Dabei standen Fragen im Mittelpunkt, die sich damit beschäftigten, wie es gelingen kann, eine erfüllende Sexualität in Betreuungssituationen umzusetzen. Und was Einrichtungen tun können, damit alle Menschen mit Behinderung sexuell selbstbestimmt leben können – ganz unabhängig von ihrem Unterstützungsbedarf?
Eine Möglichkeit für Menschen mit Behinderung, sich den Wunsch nach Nähe und Körperlichkeit zu erfüllen, ist die Sexualbegleitung oder Sexualassistenz. Nina de Vries arbeitet seit über 20 Jahren als Sexualassistentin insbesondere mit schwerstbehinderten Männern. Sie beschreibt ihre Tätigkeit als eine bezahlte sexuelle Dienstleistung, die nichts mit Romantik oder Liebe zu tun hat.
Menschliche, respektvolle Begegnungen
Es geht um eine menschliche, respektvolle Begegnung. Ich denke, dass jeder Sexualassistent selber entscheidet, was er oder sie für wen anbietet. In meinem Fall heißt das Massage, nackten Hautkontakt, Berührung, Streicheln, Umarmen und jemanden zum Orgasmus bringen, wenn er oder sie das möchte. Und Unterstützung herauszufinden, wie man masturbieren kann. Das ist ganz oft meine Arbeit gewesen bei Menschen mit schweren kognitiven Behinderungen, die das nicht selbst herausfinden.
Für Diplom-Psychologin und Sozialpädagogin Christiane Biller-Pech ist dieses Angebot eine sinnvolle Assistenzleistung, die es den betroffenen Menschen erlaubt, ihre eigene sexuelle Identität zu entwickeln.
Ein sexualfreundliches Klima schaffen
Die Existenz von Sexualbegleitung oder -assistenz, ob aktiv oder passiv, ist ja schon ein Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Thema, das ja nicht vom Himmel gefallen ist. Dafür haben sich Menschen eingesetzt, die dann gesagt haben: „So Leute, so geht das aber nicht. Ich will auch!“. Aber dieses „Ich will auch!“ muss auch gehört werden. Das ist aber nicht selbstverständlich.
Um die Wünsche der Bewohner einer Einrichtung zu erkennen, ist es wichtig, ein sexualfreundliches Klima zu schaffen, so Biller-Pech. Das kann zum Beispiel über Gespräche geschehen, bei denen sich die Mitarbeitenden austauschen, was sie in Bezug auf die Sexualität von Klientinnen sowie Klienten wahrnehmen und wo sie Handlungsbedarf sehen.
Lothar Sandfort hat jahrelang das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter ISBB in Trebel geleitet und sich dort um Sexualberatung und -begleitung behinderter Menschen gekümmert. Er hat ein geschlechterspezifisches Problem festgestellt: Frauen würden weniger Unterstützung in Einrichtungen bei ihren sexuellen Wünschen erhalten als Männer. Einen wichtigen Grund sieht er in traditionellen Denkmustern unserer Gesellschaft.
Dort ist die Sexualität von Frauen nicht unterstützungswürdig. Sie wird unterlassen, bewusst unterlassen. Es wird ihnen nicht gegeben, es wird ihnen verwehrt, weil sie sich anders ausdrückt. Männer sind aggressiv, wenn sie die Hilfe nicht bekommen. Die hauen auch schon mal den Stuhl auf den Rücken der Betreuerin. Frauen werden eher, ich sage das jetzt pauschal, es trifft nicht auf alle zu, depressiv. Und das lässt sich leichter händeln.
Die Schwierigkeit, die genauen Wünsche von Klientinnen und Klienten herauszufinden, kennt auch Audrey Engelskirchen. Sie ist Bezirksleiterin Ambulant Betreutes Wohnen bei der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Männer würden mit ihren Bedürfnissen anders umgehen als Frauen. Aus ihrer Erfahrung reagieren die Mitarbeitenden sehr sensibel auf Themen, die mit Sexualität zu tun haben. Doch vieles wird von den Klienten einer Einrichtung nicht ausgesprochen.
Das Thema Sexualität in Einrichtungen bewusster machen
Wenn wir merken, dass sich jemand anders verhält als normal oder als wir das wollen oder was auch immer man sagen will, dann ist die Frage, wer kriegt raus, was dahintersteckt. Ich finde schon interessant, mal zu überlegen, ob man dieses Thema offensiv angeht. Ich glaube, wenn die Klienten mit Wünschen kommen, dann wissen wir, was wir tun müssen. Dann können wir im Internet recherchieren. Dann können wir versuchen, herauszubekommen, was möglich ist. Dann miteinander ins Gespräch gehen, das passiert. Aber bekomme ich mit, was sie nicht sagen?
Um das Thema Sexualität in Einrichtungen bewusster zu machen und besser damit umgehen zu können, wünscht sich Christiane Biller-Pech mehr Transparenz. Ein schriftlich formuliertes Konzept, das den Umgang mit Sexualität in einer Einrichtung genau beschreibt und vor dem Einzug verteilt wird, würde für Offenheit sorgen und Konflikte zwischen den Mitarbeitenden, den Klienten, Klientinnen und deren gesetzlichen Betreuern vermeiden.
Ich empfehle wirklich sehr, dass die betroffenen Menschen, bevor sie in eine Einrichtung gehen, wo sie Assistenz und Unterstützung erwarten dürfen, dass dort klar ist, wie das mit Sexualität ist. Kann ich das selbstbestimmt machen? Quatscht mir da einer rein? Kann ich auch erwarten, dass ich zumindest passive Sexualbegleitung bekomme? Wer macht das?
Ein Konzept als Rahmen ist eine gute Voraussetzung für einen transparenten Umgang mit Sexualität und Behinderung in Einrichtungen. Für Nina de Vries ist das aber nur eine theoretische Grundlage. Ebenso wichtig ist ihr eine angemessene Aus- und Fortbildung der Mitarbeitenden.
Die Mitarbeiter brauchen Fortbildung von qualitativ hohem Niveau über ihre eigene Sexualität, über ihre eigene Geschichte. Erst dann können sie es umsetzen. Sonst sitzen sie da mit einem Papier und können das gar nicht umsetzen, weil sie die Fähigkeiten nicht haben. Sie müssen lernen, darüber zu reden. Und sie müssen lernen, sich selbst zu reflektieren und dafür gibt es sexualpädagogische Fortbildungen.
Christiane Biller-Pech erkennt bei ihrer Arbeit an der Fachschule für Sozialpädagogik in Berlin-Kreuzberg einen positiven Trend: nämlich eine zunehmende Bereitschaft der jüngeren Generation, sich mit dem Thema Sexualität und Behinderung auseinanderzusetzen. So ist sie, wie alle anderen Diskussionsteilnehmer, zuversichtlich, dass dieser wichtige Bereich des alltäglichen Lebens in Zukunft mehr Beachtung findet.