Von Fürsorge zu Teilhabe

Was bedeutet eigentlich Teilhabe?

14.09.2005
Eine Erörterung

Teilhabe im Kontext von Reha und Behindertenorganisationen (SGB IX)

Durch das SGB IX hat der Begriff Teilhabe eine politisch aktuelle Bedeutung für Menschen mit Behinderungen bekommen. Teilhabe wird als sozialpolitisches Konzept für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung definiert und löst damit alte Konzepte der Fürsorge und Versorgung im Bezug auf Menschen mit Behinderungen endgültig ab. Als Leistungen zur Teilhabe gelten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen und Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. In diesem Sinne ist Teilhabe als Aspekt der selbstbestimmten Integration behinderter Menschen zu verstehen. D.h. jeder betroffene Mensch entscheidet (mit), welche Leistungen er / sie in welcher Art und Weise erbracht haben möchte. Darüber hinaus wird die Serviceorientierung festgelegt und damit die Zielgruppe der Leistung als Kunden in den Mittelpunkt gerückt, z.B. in der Idee der gemeinsamen Servicestellen. So bezeichnet Teilhabe in diesem Zusammenhang den Paradigmenwechsel für behinderte Menschen vom Objekt der Fürsorge zum Subjekt der Selbstbestimmung ohne dabei den Aspekt der Sonderstellung behinderter Menschen im gesamtgesellschaftlichen Kontext loszulassen. Teilhabe beschreibt auch die Trennung zwischen Behindert und Nichtbehindert vor dem Hintergrund, dass behinderte Menschen besondere Leistungen und besonderen Schutz bedürfen, um am „normalen nichtbehinderten“ Leben teilhaben zu können. Die Bewegungsrichtung des Begriffes Teilhabe ist somit Separation: Es gibt das Ich und das Andere und Ich (der behinderte Mensch) bin benachteiligt, mein Ziel ist es durch Nachteilsausgleiche am Anderen teilzuhaben. Der Prozess, der dafür notwendig ist, wird als Empowerment bezeichnet.

Teilhabe als Teil der Definition von Behinderung (WHO)

Die frühere Definition von Behinderung der WHO war linear. Aus impairment / Schädigung entstand disability / Funktionsbeeinträchtigung und daraus handicap / soziale Beeinträchtigung. Hier war die persönliche Beeinträchtigung Ursache von sozialer Beeinträchtigung und damit von Mangel an Teilhabe. Das gedankliche Konzept dieser Definition ist äquivalent dem oben beschriebenen Begriff von Teilhabe im Kontext der Gesetzgebung des SGB IX. 2001 definierte die WHO Behinderung neu. Behinderung wird nun als Ergebnis einer negativen Wechselwirkung zwischen einer Person mit ihrem Beeinträchtigung-/ Gesundheitsproblem und den vorhandenen Kontextfaktoren beschrieben. Die drei Bereiche (körperliche) Funktionsfähigkeit, Aktivität (Durchführung einer Aufgabe) und Partizipation (Teilhabe) stehen in Beziehung zueinander. Jeder dieser Bereiche wirkt auf den anderen ein und wird gleichzeitig von diesem beeinflusst. In diesem gedanklichen Konzept ist der (behinderte) Mensch Teil des Ganzen und muss nicht erst in das Ganze integriert werden. Auch Teilhabe ist in diesem Konzept bereits Teil des Ganzen. Wenn individuelle Konstitution, Aktivität und Teilhabe sich negativ gegenseitig beeinflussen liegt Behinderung vor. Behinderung ist somit nicht mehr an den Menschen mit seiner Individualität gekoppelt, sondern an den Prozess der Interaktion. Behinderung ist also nicht mehr Ursache für mangelnde Teilhabe, sondern Teilhabe wird als Voraussetzung für Nichtbehinderung begriffen. Der Begriff Teilhabe hat in diesem Kontext etwas Verbindendes, da das Attribut „behindert“ in dieser Definition nicht mehr dem individuellen Menschen zugeschrieben wird, sondern einer Gesamtsituation und Teilhabe somit alle Menschen umfasst. Damit verlieren „behinderte“ Menschen auch ihren „Sonderstatus“ im Bezug auf Teilhabe. Dies ermöglicht neue Bündnisse mit anderen von Teilhabe ausgegrenzten Gruppen wie z.B. Arbeitsloseninitiativen.

Teilhabe als Aspekt partizipatorischer Demokratie

Teilhabe ist eine gängige Übersetzung des Begriffes Partizipation und wird synonym für diesen benutzt. Wie der Begriff Teilhabe als Aspekt der partizipatorischen Demokratie verstanden wird soll mit folgender Beschreibung aus www.wikipedia.org erläutert werden:

„Partizipatorische Demokratie (von Partizipation, Teilhaben, Teilnehmen und Demokratie, Volksherrschaft) will politische Mitwirkung möglichst vieler in möglichst vielen Bereichen maximieren. Die erzieherischen Funktionen der Demokratie, die öffentliche Willensbildung und der Aufbau einer Zivilgesellschaft sind dabei zentrale Anliegen. Dabei steht die Ausdehnung des Demokratieprinzips auf alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche sowie der Privatsphäre im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich um eine alternative Demokratietheorie, die so in der Praxis (bisher) nur in Ansätzen umgesetzt ist. ...
Eine partizipatorische Demokratie soll gemeinsame Interessen auflegen, mobilisieren und ausgleichen, und ein Regieren durch Mitwirken und rege Diskussion umsetzen. Die Basis dabei ist Deliberation, also verständigungsorientierte Kommunikation. So wird eine authentische Partizipation möglichst vieler an möglichst vielen öffentlichen Angelegenheiten (siehe auch Ochlokratie, ursprünglich jedoch negativ geprägt) ermöglicht. ...
Kritik an klassischer repräsentativer Demokratie:
Repräsentation wird von Theoretikern der partizipatorischen Demokratie als Machtabgabe verstanden und führt zu einer Herrschaft weniger über alle (Oligarchie). Es wird infrage gestellt, ob gewählte Parteien oder Politiker wirklich als demokratisch legitimiert gelten.
Partizipation wird durch Wahl gehemmt, Eigeninitiative wird verdrängt, gesellschaftliche Selbstorganisation kann sich nicht voll entfalten. ...
... während partizipatorische Demokratie Mitwirken nicht primär durch Abstimmung, sondern als Teilhaben und seinen Teil leisten versteht (direktdemokratisch wird abgestimmt zum Beispiel mehr Entwicklungshilfe zu machen, partizipatorisch würde man einen Verein gründen und selbst Entwicklungshilfe machen)...“

Teilhabe als politische Antwort auf die Reformpolitik der Bundesregierung (Aktion Mensch)

In dem oben beschriebenen Sinne der partizipatorischen Demokratie wird Teilhabe als Mitwirkung möglichst vieler in möglichst vielen Bereichen, auch als Gegenbewegung zum System der Repräsentation verstanden. In der Broschüre „Zukunft gestalten mit dem Lokalen Teilhabeplan“ der Aktion Grundgesetz wird deutlich, dass auch die Forderung nach lokalen Teilhabeplänen auf einem ähnlichen Demokratieverständnis wurzelt:

„Die Forderung nach Teilhabe ist in diesem Kontext eine programmatische Antwort der Behindertenorganisationen auf die Reformpolitik der Bundesregierung. Sie ist ein wichtiges Prinzip, das – auch weit über den Bereich der Behindertenhilfe und –selbsthilfe hinaus – zum Maßstab gelungener Sozialpolitik werden könnte.“


Teilhabe wird in diesem Kontext als direkte Aktion gelebt. Der 05.Mai dieses Jahres stand unter dem Motto „lokale Teilhabepläne“ und in unzähligen Aktionen wurde die Entwicklung lokaler Teilhabepläne dezentral angestoßen. Die Aktion Grundgesetz hat mit ihrer Broschüre einen Leitfaden zur Umsetzung lokaler Teilhabepläne vorgelegt. In diesem wird Zielsetzung und Hintergrund der Aktionen genannt und es werden Vorschläge zum konkreten Vorgehen gemacht. Teilhabe ist in diesem Rahmen gelebte Politik, gelebte Kritik und gelebte Selbstverantwortung. Menschen mit und ohne Behinderung sind aufgerufen in ihrem direkten Lebensumfeld Verbesserungen zum Vorteil aller Menschen zu schaffen.

Aspekte von Teilhabe (Felder und Stichworte)

Um zu erfassen in welchem Umfang der Teilhabegedanke bereits in politische, soziale und wirtschaftliche Konzepte Einzug gehalten hat, sollen im folgenden Bereiche stichwortartig aufgeführt werden, die vom Teilhabegedanken geprägt sind und für die verschiedene soziale Gruppen mit konkreten Projekten und Vorschlägen tätig sind. Dies zeigt die Bandbreite auf und vermittelt ein Gefühl für die umfassende Bedeutung des Teilhabegedankens:

  • Teilhabegeld
  • Lokaler Teilhabeplan
  • Leistungen zur Teilhabe nach SGB IX
  • Politische Teilhabe
  • Soziale Teilhabe
  • Berufliche Teilhabe
  • Kulturelle Teilhabe
  • Teilhabe und Mobilität im Alter
  • Barrierfreiheit
  • Integrative Beschulung
  • Nachbarschaftshilfe
  • Weiterentwicklung Eingliederungshilfe
  • Persönliches Budget
  • Ambulante Wohnformen
  • Inclusion
  • Disability mainstreaming (umfassender Ansatz zur Einbeziehung und Berücksichtigung von Belangen behinderter Menschen)
  • Design for all (Barrierefreiheit in allen Bereichen als Vorteil für alle Menschen)

Teilhabe als gesellschaftlicher und individueller Prozess (Karl Finke)

Karl Finke hat in seinem Referat anlässlich einer Tagung in Kooperation mit dem Landesverband der Volkshochschulen und der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 04./05. Februar 2005 auf den Punkt gebracht, was Teilhabe konkret für Menschen mit Behinderungen heißt:

„Hervorheben möchte ich, dass Teilhabe nicht eine Bewegung von a nach b ist und dann abgeschlossen, sondern ein fortlaufender, dauernder gesellschaftlicher Prozess, der zwar ein festes Fundament, aber in den Orientierungen jeweils neu ausgerichtet werden muss.“

In darauf folgenden Beispielen verdeutlicht Karl Finke, dass Teilhabe als gesellschaftlicher und individueller Prozess auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Je nach individueller Voraussetzung und Behinderung geht es darum persönlich neue Felder zu besetzen, in denen durch Teilhabe verbesserte Lebensqualität erreicht wird. Politisch wird Teilhabe als unmittelbare Beteiligung bei Prozessen und Entscheidungen in allen Lebensbereichen verstanden, von denen behinderte Menschen betroffen sind. Teilhabe wird hier als ein systematischer Prozess verstanden, in dem es um unmittelbar aufeinander abgestimmte Maßnahmen und Gestaltungsmöglichkeiten geht im Gegensatz zu punktuellen Möglichkeiten der Mitbestimmung. Karl Finke beschreibt Teilhabe als Gesellschaftsentwurf, der alle Menschen betrifft und in einem gesellschaftlichen buttom-up und top-down Prozess gelebt und entwickelt werden muss. Somit wird die Verantwortung für eine Teilhabegesellschaft sowohl den einzelnen Menschen zugeschrieben, der sich nach seinen individuellen Möglichkeiten engagiert, als auch den politischen und anderen Machthabern, die ihre Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse als Prozesse der Teilhabe gestalten sollten. Teilhabe ist damit nicht nur ein Teilhaben an Prozessen, sondern auch ein Geben der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten. Als konkrete Schritte und Maßnahmen auf dem Weg zu einer Teilhabegesellschaft werden von Karl Finke z.B. benannt: Barrierefreiheit, materielle Absicherung, Nachteilsausgleiche, Trennung von Sozial- und Eingliederungshilfe, Regiekompetenz für die eigenen Hilfeleistungen.

Von Teilhabe zum vollen Leben (Fürst Donnersmarck-Stiftung)

Unter dem Motto „Blickwechsel 2005: Volles Leben“ will die Fürst Donnermarck-Stiftung die Diskussion um Teilhabe neu beleben. Provokativ wird das Motto „Volles Leben statt Teilhabe“ und damit die Begrenzung des Begriffes Teilhabe kommuniziert. Im Mittelpunkt dieses Mottos sollen damit besonders die emotionalen und sozialen Seiten des Lebens gestellt werden, für die jeder Mensch auch die eigene volle Verantwortung hat. Nicht die Behinderung von Menschen und der aus diesem „Nachteil“ erwachsende Ruf nach Teilhabe steht im Vordergrund, sondern die Frage nach individuellen Lebensentwürfen, nach Lebensqualität und Selbstverwirklichung von Menschen mit und ohne Behinderung. Der verbindende Aspekt aller Menschen rückt hiermit in den Mittelpunkt der Diskussion und nicht die Trennung von Behindert und Nichtbehindert. So wird in der Presseinfo geschrieben:

„ Grundsätzlich hängt es aber nicht vom Grad der Behinderung ab, ob ein Mensch ein glückliches und selbstbestimmtes Leben führt, das durch intensive soziale Beziehungen, berufliche Erfüllung und gesellschaftliche Teilhabe charakterisiert ist.“

Ziel ist somit auch nicht die Erstellung eines politischen oder sozialen Konzeptes für volles Leben, sondern das direkte Leben von vollem Leben in direkten Aktionen. Eine dieser Aktionen wird am 13. August 2005 unter dem Motto „Volles Leben – das Sportereignis“ im Rahmen der Internationalen Deutschen Meisterschaft Leichtathletik für Behinderte stattfinden.
In diesem Ansatz spiegelt sich die Intention der umfeldbezogenen WHO-Definition und auch der Ansatz der partizipatorischen Demokratie wider.

Gedanken zum Schluss

Fürsorge, Teilhabe, Volles Leben. Dieses sind die Begriffe, um die sich im wesentlichen die Diskussion dreht. Vielleicht sind diese Begriffe nicht als die Kette einer Entwicklung von Früher zu Heute zu verstehen, sondern als Aspekte jeden menschlichen Lebens. Jeder Mensch hat Zeiten und Lebensbereiche, in denen er bedürftig ist und Fürsorge benötigt ebenso wie Zeiten und Bereiche, in denen er volle alleinige Verantwortung für Entwicklung und Lebensqualität übernehmen kann. Vielleicht ist es die Aufgabe, die Begriffe im Leben aller Menschen auf den richtigen Platz zu verweisen. Dafür sind menschliche Eigenschaften notwendig, die es gesellschaftlich und individuell zu entwickeln gilt: Liebe, Respekt, Solidarität, gegenseitige Hilfe. Nicht nur Haben, auch Geben. Nicht nur besitzen, auch loslassen. Welche Projekte und Aktionen brauchen wir, um diese Kräfte in allen Menschen wachsen lassen, für ein volles erfülltes Leben für alle?

Ein Porträtfoto von Kirstin Fossgreen.
Die Autorin

Kirstin Fossgreen

M.A.
Politische Wissenschaft, Soziologie, Sozialpsychologie,
Referentin für Gesundheitsförderung