Wir-Magazin 2/2021 Gewalt
Berichte aus dem Schatten: Über Gewalt reden
Vier Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderung wurden im April 2021 im Potsdamer Thusnelda-von-Saldern-Haus umgebracht, eine weitere Person schwer verletzt. Die Tat erregte landesweite Aufmerksamkeit und offene Bestürzung. In ihrer Berichterstattung erklärte die deutsche Tagespresse die Ereignisse zunächst jedoch fast ausschließlich mit Argumenten wie dem Pflegenotstand, individueller Überlastung oder sogar dem Wunsch, die Betroffenen „von ihrem Leid zu erlösen“. Das war nicht nur verharmlosend, sondern hat auch zu einem schnellen Abflachen der Debatte nur wenige Tage nach den Morden geführt, die erst im Oktober 2021 anlässlich des Gerichtsverfahrens gegen die Täterin wieder an Fahrt aufnahm. In der aktuellen Ausgabe des WIR-Magazins blicken wir über die Ereignisse in Potsdam hinaus. Unsere inklusive Redaktion beschäftigt sich ganz grundsätzlich mit Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderung. Diese sind häufiger als man denkt. „Dass es keine sexuelle Belästigung in Einrichtungen der Behindertenhilfe gibt, ist ein gesellschaftlicher Mythos“, erklärt beispielsweise Sascha Omidi, Fachberater für Gewaltschutzkonzepte für Werkstätten für Menschen mit Behinderung.
Den Mut, aber auch die Kraft haben, über Gewalterfahrungen zu sprechen
Wie viele Menschen mit Behinderung tatsächlich Gewalterfahrungen haben, bleibt allerdings im Dunkeln, gerade weil es selten zu Anzeigen kommt. Opfer zum Beispiel von Hasskriminalität „müssen den Mut fassen, vor Gericht auszusagen, um sich auch für ihre Gruppe zu wehren und Empowerment der Betroffenen zu schaffen“, erklärt Ines Karl, Oberstaatsanwältin der Zentralstelle Hasskriminalität dem Wir-Magazin. Den Mut, über Gewalterfahrungen zu sprechen, hatten auch Kinder oder Jugendliche mit Behinderung, die Leid und Unrecht in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie nach 1945 erfahren haben und heute noch an Folgewirkungen leiden. Wissenschaft kann dieses Leid und Unrecht öffentlich sichtbar machen und damit einen Beitrag zur Aufarbeitung und Bewältigung des Erlebten leisten. Darüber berichtet der Historiker Prof. Dr. Heiner Fangerau in einem Exklusiv-Interview für das Wir-Magazin. Prof. Fangerau präsentierte im Oktober 2021 die Ergebnisse einer im Auftrag der Stiftung Anerkennung und Hilfe durchgeführten Forschungsstudie zu diesem Themenfeld. Über Gewalt- und Missbrauchserfahrungen gegenüber Menschen mit Behinderung muss weiterhin gesprochen und geschrieben werden, gerade jenseits dramatischer Schlagzeilen. Wir schauen hin und benennen einige der Probleme, exklusiv für diese Ausgabe unterstützt von dem Fotografen Andi Weiland von gesellschaftsbilder.de.