Villa Donnersmarck

Hörbericht: Denkstile - Bilder von Behinderung

Podcast zur Auftaktveranstaltung der Reihe mit der Landeszentrale für politische Bildung mit dem Fokus Medizin.
07.06.2023
Foto: Podiumsdiskussion Denkstile, im Vordergrund Hinterköpfe des Publikums, auf der Bühne Moderatorin Adina Hermann und Podiusmgäste Dr. Leopold Rupp (links) und Prof. Dr. Cornelius Borck (sitzend rechts)

Hörbericht zur Diskussionsrunde am 24. Mai 2023

Wie Menschen mit Behinderung beurteilt werden, hängt davon ab, wie die Gesellschaft gewohnt ist sie zu sehen. Bis heute ist ihr Bild von einem gesundheitlichen Blick geprägt. Beeinträchtigungen machen "krank" und verhindern ein vollwertiger Teil der Gesellschaft zu sein. Alles nur altes Denken? Die Diskussion am 24. Mai 2023 in Kooperation mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung  fragte nach. Hören Sie einen Beitrag von Klaus Fechner. (reichweiten.net)

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Transkription zum Mitlesen

Denkstile – welche Bilder und Vorstellungen von Behinderung haben wir im Kopf? Und wie wirken sich diese Sichtweisen auf die gesellschaftliche Situation von Betroffenen aus? Mit diesem Thema beschäftigt sich eine Diskussionsreihe der Fürst Donnersmarck-Stiftung, die in Kooperation mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung durchgeführt wird.

Bei der Auftaktveranstaltung am 24. Mai 2023 in den Räumen der Landeszentrale in Berlin-Charlottenburg stand der medizinische Blick auf Behinderung im Fokus. Das ist ein wichtiges Thema, denn oftmals werden Einschränkungen noch immer als gesundheitliche Defizite und als Krankheit gedacht – häufig mit negativen Folgen für die Betroffenen.

Reduziert auf die Diagnose

Foto: Adina Hermann, eine junge Frau im Rollstuhl, mit Mikrophon auf einer Bühne

Das ist eine Erfahrung, die auch die Moderatorin der Diskussion Adina Hermann gemacht hat. Sie ist Rollstuhlfahrerin und Vorständin beim gemeinnützigen Verein Sozialhelden, der sich für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderung einsetzt.

Ich muss sagen, dass ich in meinem Leben schon recht häufig auf meine Diagnose reduziert wurde. Das ist für mich eine sehr unschöne Erfahrung. In den meisten Fällen möchte ich als Mensch gesehen werden mit sehr vielen komplexen und vielfältigen Eigenschaften und nicht nur als meine Behinderung.

Die Abweichung vom Gesunden

Foto: Prof. Dr. Cornelius Borck, ein Mann mit Hornbrille mittleren Alters, mit Mikrophon auf einer Bühne sitzend

Diese individuelle Erfahrung bestätigt der Medizinhistoriker Prof. Dr. Cornelius Borck von der Universität Lübeck. Aus seiner Sicht ist der medizinische Blick auf Behinderung als Leiden oder Defizit in der Gesellschaft weit verbreitet.

In unserer Gesellschaft dominiert der medizinische Blick auf Behinderung. Das Problem dabei besteht, dass er Behinderung als defizitär bestimmt von dem, was als gesund oder normal vorausgesetzt wird, ohne dass darüber nachgedacht wird. Es wird die Abweichung, das Defizit zum Gesunden als Behinderung angesetzt.

Wer nicht so spricht wie die meisten oder nicht so mobil ist wie die Mehrheit, besitzt demnach ein Defizit, ist – nach dieser Ansicht – weniger leistungsfähig oder – im schlimmsten Fall – sogar weniger wert. Dieses medizinische oder defizitäre Verständnis von Behinderung ist in vielen Köpfen, weil die Medizin so erfolgreich ist und viele Krankheiten behandeln kann, meint Prof. Borck. So sei für viele Menschen und auch für viele Mediziner eine Behinderung als Abweichung von der Norm kaum vorstellbar und wird als Mangel gedacht. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch den weit verbreiteten Glauben an die permanente Optimierung des Individuums.

Der Umgang mit Behinderung in unserer Gesellschaft wird auch deswegen immer schwerer, weil wir auf diesem blöden Galopprennen der Optimierung und der Effizienzorientierung sind. Alles immer schneller, höher, weiter, effizienter, kreativer, konzentriert zu machen. Man kommt ja nicht raus aus dieser Nummer.

Rollen und persönliche Normen

Foto: Dr. Leopold Rupp, ein junger Mann mit Brille im Rollstuhl, mit Mikrophon auf einer Bühne

Doch was gilt als Norm und was als Abweichung davon? Dr. Leopold Rupp ist Assistenzarzt an der Charité Berlin und berücksichtigt in seinem medizinischen Alltag in der Notaufnahme das Spannungsverhältnis zwischen der medizinischen Norm und den jeweils individuellen Normen seiner Patientinnen und Patienten, egal ob es sich um Menschen mit oder ohne Behinderung handelt.

Ich arbeite in der Notaufnahme und dementsprechend kommen da Personen mit akuten Problemen hin, wo sie selber der Meinung sind, dass dies jetzt von der Norm abweicht. Deswegen ist es relevant aus medizinischer Sicht, dass man auf die Bedürfnisse der betroffenen Person eingeht und herausarbeitet, wie weit das von ihrer persönlichen Norm abweicht. Man darf es also nicht rein als medizinischen Blick betrachten und als das, was man aus dem Lehrbuch kennt, sondern man muss den Patienten, die Patientin mit einbeziehen. Und so herausfinden, was ist die Abweichung der jeweiligen Norm für diese Person.

So könne Teilhabe für alle Patientinnen und Patienten ermöglicht werden. Dr. Rupp ist selbst Rollstuhlfahrer, gibt seiner Behinderung aber keinen Raum bei seiner Arbeit und thematisiert sie in der Regel nicht. Interessant ist für ihn in vielen Fällen die Perspektive der Patienten auf ihn als Arzt, wie er an einem Beispiel beschreibt.

Das erlebe ich häufig und es sagt viel aus über die Perspektive: Ich komme zur Arbeit, bin noch nicht umgezogen und bin in meinem Rollstuhl. Dann treffe ich auf Kinder im Foyer, zum Beispiel in der Kinder-Notaufnahme, dann sagen die „Oh, ein kleiner Mann“. Wenn sie mich danach sehen mit einem Stethoskop um meinen Hals und in meinem Hochfahr-Rolli, dann sagen sie „Oh, ein kleiner Arzt“. Die kriegen das sofort hin. Sie merken das schon, sie nehmen das wahr, aber für sie ist die Rolle trotzdem klar.

Seine Rolle als Arzt besteht unabhängig von seiner Behinderung. Kommt ein Mensch mit Behinderung oder wegen seiner Behinderung zu ihm ins Krankenhaus, dann nimmt er die Behinderung zwar wahr, bewertet sie aber nicht automatisch als Krankheit, die geheilt werden muss. Die Voraussetzungen dafür sind aber selbstbewusste und aufgeklärte Patientinnen und Patienten, die ihre Wünsche mitteilen können.

Aus meiner ärztlich-medizinischen Sicht bin ich darauf angewiesen, dass mir die Menschen klarmachen, ob sie gerade einen Krankheitswert haben. Im Sinne von einer Situation ihres Körpers, die sie verändert haben möchten. Und ich kann anbieten, ich bin quasi der Fachexperte, der das Wissen hat, wie ich eine Behinderung verändern kann. Ich bin derjenige, der das Werkzeug mitbringt und sagt, ich kann ihnen folgendes anbieten. Aber dann ist es an den Patientinnen und Patienten. Aber dazu müssen wir sie befähigen, selber anzuerkennen, was für sie lebenswert ist, was für sie eine Behinderung darstellt und was für sie normal darstellt.

Ganz klar: Manchmal ist der medizinische Blick auch notwendig. Nämlich immer dann, wenn akute Krankheiten wie beispielsweise Schlaganfälle den Gesundheitszustand der Betroffenen ob mit oder ohne Behinderung bedrohen. Nur darf der medizinische Blick nicht zu einer generellen Abwertung von Menschen mit Behinderung führen. Deswegen ist die Verbindung des menschenrechtlichen Blicks, der Menschen mit Behinderung als Träger von Menschenrechten anerkennt, und des medizinischen Blicks entscheidend, so die Moderatorin Adina Herrmann.

Brücke zwischen den Perspektiven

Foto: Bühne der Podiumsdiskussion Denkstile

Eine Brücke zwischen den beiden Perspektiven kann aber nur gemeinsam geschlagen werden, ist sich Dr. Leopold Rupp sicher. Alle medizinischen Fachberufe, alle Mitarbeitenden, Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal und andere Berufsgruppen wie zum Beispiel Gebärdendolmetscher müssen miteinander im Team arbeiten, um mit den Patientinnen und Patienten gemeinsame Entscheidungen zu treffen.  
Für Prof. Dr. Borck ist nicht nur das Gesundheitswesen gefordert, um dieses Ziel zu erreichen. Ein Umdenken in der gesamten Gesellschaft sei notwendig:

Das ist ein Prozess, der über die Medizin hinausgeht. Das ist wichtig. Das geht über die Ärzte und Ärztinnen hinaus. Dass Vielfalt Bereicherung für die Gesellschaft ist, das muss gelebt und erreicht werden. Und das muss vor allen Dingen bei denjenigen ankommen, für die das gelten soll. Die müssen das auch so erleben dürfen. Das ist die Vision und geht nur mit möglichst vielen, die mitmachen und mitgenommen werden.